Futter fürs Hirn – Industrie 4.0 für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie

Das Ziel, Industrie 4.0 als digitale Agenda in sämtlichen produzierenden Betrieben zu implementieren und so die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, gilt selbstverständlich auch für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Verändertes Konsumentenverhalten, gesetzliche Vorgaben sowie die wachsende Spezialisierung stellen die Branche dabei vor immer neue Herausforderungen. Auch wenn die Automatisierung von Anlagen schon oft umgesetzt ist, fehlt es aber in vielen Fällen noch an der strukturierten Integration in ein gesamtheitliches Datenkonzept. Durch die digitale Vernetzung aller Prozesse bieten sich hier innovative Lösungen. Was Industrie 4.0 für die Lebensmittel- und Getränkeindustrie bedeutet, wo die Chancen liegen und welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung es gibt, ist Thema dieses Beitrags.

Die rasante Verbreitung neuer technologischer Errungenschaften hat das etablierte industrielle System innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt und revolutioniert selbstverständlich auch die Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Produkte und Herstellungsschritte werden überdacht, ganz neue Wege tun sich auf. In der Kantine von Google gibt es beispielsweise bereits Spaghetti aus dem 3-D-Drucker, diverse Startups experimentieren mit der Produktion von gedrucktem Fleisch aus in-vitro-gezüchteten Zellen. Und das ist erst der Anfang [1]. Die wesentlichen Merkmale der Industrie 4.0 wie etwa die intelligente Vernetzung von Maschinen und industriellen Abläufen mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien [2], die dezentrale Ausrichtung der Wertschöpfungskette mit Ad-Hoc-Vernetzung und die Berücksichtigung und Speicherung von individuellen Kunden- und Produktkriterien während des gesamten Produktlebenszyklus [3] zeigen der Lebensmittel- und Getränkeindustrie ganz neue Wege für die Fabrik der Zukunft auf.

Wo Industrie 4.0 einen wesentlichen Unterschied macht

Berücksichtigung von verändertem Verbraucherverhalten

Konsumenten im 21. Jahrhundert recherchieren Produkte über ihr Smartphone und wählen häufig bewusst aus, welche Nährstoffe sie ihrem Körper zuführen wollen. Um Verbraucher zum Kauf zu animieren, müssen Hersteller und Händler auf Point-of-Sale(POS)-Lösungen setzen, welche Kaufentscheidungen beeinflussen können. Ein Beispiel etwa sind POS-Displays, die mit den Mobiltelefonen von Kunden interagieren.

Eine aufstrebende Technologie ist intelligente Etikettierung. Die Kombination aus kabellosen Markierungen, Software-Anwendungen und Cloud-Plattformen ermöglicht es Verbrauchern, Produktetiketten mit dem Smartphone zu scannen, um sich ihrer Authentizität zu versichern oder um Informationen über Bewertungen, Kundenbindungsmaßnahmen (z. B. über Kundenkarten) oder Produktvideos zu erhalten. Dafür braucht es nichts weiter als ein Near Field Communication(NFC)-fähiges Gerät. Die Daten, die diese intelligenten Etikettierungen den Herstellern liefern, beinhalten demografische Informationen, Orte, Likes, Social Shares sowie die genaue Anzahl der Abrufe [4].

Datenmanagement

Die Optimierung des Datenaustauschs sowie die Datensammlung über alle Maschinen der Produktionskette hinweg ermöglichen nicht nur einen schnellen Zugriff auf wesentliche Informationen, sondern stellen auch sicher, dass sämtliche Prozessschritte sicher dokumentiert werden. So kann etwa Cloud Computing Herstellern dabei helfen, die Daten von einem oder gar tausenden Produkten für Analysen bereitzustellen und erleichtert dadurch auch die Rückverfolgbarkeit.

Lebensmittelrückrufe

Sind Lebensmittel oder Getränke bei der Herstellung verunreinigt worden, kann Industrie 4.0 etwa wegen Verbraucherbeschwerden oder aufgrund von Lebensmittelkontrollen bei der Rückverfolgbarkeit helfen. Der Druck auf die Hersteller, diese Produktrückrufe schnellstmöglich zu veranlassen, wächst stetig. Die Rückverfolgbarkeit der Kontaminationsursache ist aber oftmals eine langwierige Angelegenheit, kommen doch so vielfältige Dinge wie beispielsweise mikrobielle Verunreinigungen, Etikettierungs- und Verpackungsfehler, Verunreinigungen durch Metall, Plastik, Glas oder potenziell gefährliche Substanzen wie Maschinenöl oder biologische Gifte in Frage. Deshalb sind Prozesse nötig, die Fehlerursachen umgehend identifizieren und beseitigen.

Sensortechnologien leisten da einen großen Beitrag. Intelligente Identifikationssysteme, welche die Rückverfolgbarkeit ermöglichen, gibt es in verschiedenen Varianten. So existieren etwa Radiofrequenz-Identifikation (RFID)-Etiketten, mit denen beispielsweise Gemüse unmittelbar nach der Ernte versehen wird, um nachvollziehen zu können, wo eine Ladung herkommt. Außerdem gibt es Systeme, die ein systematisches und effizientes Datentracking ermöglichen – und zwar vom Rohstoff bis hin zum fertigen Produkt.

Einzelanfertigungen

Während Einzelanfertigungen entsprechend individueller Kundenanforderungen bis dato extrem schwierig umsetzbar waren, bewegen sich einige Unternehmen dank des technischen Fortschritts in genau diese Richtung. Die Möglichkeit der Automatisierung sowie die bereits erwähnten Sensortechnologien ermöglichen es, den Wünschen der Kunden entgegenzukommen. Ein bekanntes Beispiel ist die individuelle Zusammenstellung von Müsli, das mit eigenem Label versehen direkt an den Kunden verschickt wird. Beispiele hierfür sind etwa The cereal club [5], Dein Müsli Mixer [6] oder My cereal mix [7].

Wo die größten Herausforderungen der Branche liegen

In einem mehr als gesättigten Markt – wie es der der Lebensmittel- und Getränkeindustrie ist – müssen sich Hersteller mit vielerlei Fragenstellungen, Problemen und auch Schwierigkeiten auseinandersetzen. Die Möglichkeiten, die Industrie 4.0 bereits jetzt schon bietet, können dazu beitragen, diese Herausforderungen zu verbessern oder sogar auch zu lösen, wie folgende Beispiele deutlich machen.

Beibehaltung von Clean Labels ohne Geschmackseinbußen

Die Rate Fettleibiger hat sich zwischen 1980 und 2014 weltweit verdoppelt. Die Verbindung zwischen gesüßten Lebensmitteln und Fettleibigkeit ist gut dokumentiert, wie zahlreiche Studien belegen [8, 9]. Für Unternehmen, die Softdrinks, Getränke für Kinder oder proteinbasierte Getränke produzieren, wird die Reduktion des Zuckergehalts in Zukunft Priorität haben müssen. Die große Herausforderung dabei ist, einerseits die Zuckermenge zu reduzieren, andererseits aber Süße und Geschmack des Produkts zu erhalten. In Forschung und Entwicklung wird deshalb derzeit mit Hochdruck nach natürlichen Zutaten gesucht, die das bekannte Geschmackserlebnis garantieren und gleichzeitig in Form von Clean Labels vermarktet werden können, um gesundheitsbewusste Kunden anzusprechen.

Anpassung von rechtlichen Anforderungen

Lebensmittelstandards unterliegen einem ständigen Wandel. Abgesehen von der Tatsache, dass behördliche und interne Erwartungen nicht immer übereinstimmen, stehen Hersteller auch vor der Herausforderung, den wachsenden Ansprüchen ihrer immer besser informierten Kunden gerecht zu werden. Wenn Hersteller nicht in der Lage sind, stringente Lieferketten und ein ausgereiftes Sicherheitsmanagement zu garantieren, ist die Gefahr späterer Rückrufe enorm. Automatisierte und transparente Prozesse sowie optimierte Workflows können an dieser Stelle ein effizientes Datenmanagement und verbesserte Qualitätskontrollen sicherstellen.

Wachsende Spezialisierung

Verbraucher sind mittlerweile mit einem Überangebot an Produkten konfrontiert. Die riesige Auswahl überfordert und führt zu geringerer Konsumbereitschaft. Dazu kommt der zunehmende Wunsch nach biologischen und gesunden Produkten. Lebensmittelunternehmen müssen Strategien entwickeln, die aus der Masse hervorstechen und sich vom Wettbewerb abgrenzen. Alleinstellungsmerkmale müssen her, die einen klaren Mehrwert bieten. Das kann alles sein – vom Clean Label über ökologischere Verpackungen bis hin zur authentischen Vermarktung nachhaltiger Unternehmenswerte.

Welche Möglichkeiten sich durch neue Technologien bieten

Erfüllung von Compliance-Richtlinien

Lebensmittelproduzenten stehen unter dem Druck, wechselnden Konsumentenwünschen und Verhaltensweisen gerecht zu werden. Gleichzeitig müssen neue Produkte den Compliance-Richtlinien auf lokaler und globaler Ebene gerecht werden. Der US-amerikanische Food Safety Modernization Act (FSMA) [10] und die LMIV der EU [11] sind nur zwei der weltweit bestehenden Lebensmittelstandards, die beim globalen Produktvertrieb eingehalten werden müssen. Dazu ist ein effektives Management aller Daten sowie eine lückenlose Dokumentation sämtlicher Prozesse entlang des gesamten Produktlebenszyklus nötig – von der Forschung und Entwicklung bis ins Supermarktregal.

Compliance Management ist mittlerweile eine eigenständige Aufgabe, um auf wechselnde Marktanforderungen souverän reagieren können, Lebensmittelsicherheit garantieren und Qualitätsstandards einhalten zu können und um schließlich Marktanteile zu vergrößern. Im Hinblick auf Sicherheit und Regelkonformität ist ein effektives Datenmanagement nötig. Beim Speichern gebräuchlicher Daten wie Zutaten, Rezepturen, Rohstoffen und Spezifikationen fehlt allerdings oft die Systematik, ein zentraler Zugriff ist schwierig, Absprachen mit anderen Abteilungen finden nicht statt. Sowohl Produkt- als auch Datenentwicklung profitieren von einem zentralen Speicherort mit einem durchdachten Spezifikationsmanagement-System: Der Zugriff auf Informationen und das Teilen und Verwalten von Daten kann schnell, einfach, einheitlich und synchron gestaltet werden. Eine einzige Datenbank standardisiert Prozesse, verbessert die Qualitätssicherung und vereinfacht damit einige der Herausforderungen bei unangekündigten Kontrollen. Einige große Lebensmittelmarken setzen Big Data bereits erfolgreich ein und nutzen etwa Informationen der Regulationsbehörden, um mögliche Probleme bei der Lebensmittelsicherheit rechtzeitig identifizieren und frühzeitig gegensteuern zu können [12, 13, 14].

Neben effektivem Produktdaten-Management gilt es auch, regelkonforme Verpackungen samt inhaltlich korrekten Etiketten einzusetzen. Dienstleister, die Produktlabel prüfen, sind wertvolle Partner für Lebensmittelproduzenten, denn sie helfen ihnen dabei, rechtliche Anforderungen zu verstehen und unterstützen Unternehmen bei der Entwicklung regelkonformer Produktkennzeichnungen in verschiedenen Sprachen. Ein weiterer Aufgabenbereich kann etwa die Überprüfung bestehender Label sein oder die umfassende Unterstützung bei der Entwicklung von Etiketten für Lebensmittel, die in internationale Märkte exportiert werden sollen.

Garantie von Rückverfolgbarkeit und Transparenz

Sowohl Rückverfolgbarkeit als auch Transparenz sind wichtige Parameter in Lebensmittellaboren. Nur, wenn beide gegeben sind, kann die Ursache einer möglichen Kontaminierung schnellstmöglich identifiziert und auch zeitnah eliminiert werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Lebensmittelproduzenten dazu verpflichtet, relevante Produktinformationen exakt offenzulegen.

Auch wenn man diese Notwendigkeit in der Regel im Blick hat, fehlt es häufig an den entsprechenden Möglichkeiten. Tatsächlich haben viele Hersteller weder die nötigen Kenntnisse hinsichtlich nationaler und globaler Lebensmittelsicherheitsregulationen noch Zugang zu Industrie-Standards, welche Handlungsanweisungen für Produktion und Produktangaben vorgeben [15].

Die Lösungen für diese Problematik nennen sich Product Lifecycle Management (PLM), Global Data Synchronization Network (GDSN) sowie Laborinformationsmanagementsysteme (LIMS).

Product Lifecycle Management (PLM): Im Zuge der Notwendigkeit eines allumfassenden Produktdatenmanagements hat sich PLM von einer administrativen Tätigkeit zu einem bedeutenden Eckpfeiler der Lebensmittel- und Getränkeindustrie entwickelt. Mithilfe einer PLM-Plattform können Lebensmittelhersteller nicht nur die Konsumenten- und Händlernachfrage besser decken, sondern auch gleichzeitig die Time-to-Market verkürzen und so auch ihre Umsätze steigern. PLM-Lösungen liefern Verfahren für die globale Produktentwicklung, einschließlich eines zentralisierten Formel- und Rezepturmanagements. Weitere Bereiche sind Change Management, Master-Spezifikationsmanagement, Lieferantenmanagement, Prozessautomatisierung, Dokumentenkontrolle, Ressourcenplanung sowie eine verbesserte Zusammenarbeit über das gesamte Unternehmen hinweg inklusive der erweiterten Beschaffungskette.

Global Data Synchronization Network (GDSN): Als ein Netzwerk mit über 30 zertifizierten Datenpools, die über 35.000 Unternehmen miteinander verbinden, garantiert GDSN eine höchstmögliche Datentransparenz. Es gibt Produzenten die Möglichkeit, Informationen wie Haltbarkeit, Inhaltsstoffe, Bestellinformationen, Öko-Zertifikate, Lager- und Gebrauchsinformationen, Alkoholgehalt, Diätinformationen, Lebensmittelzusatzstoffe, Konservierungsmittel, Verpackungshierarchie sowie Details hinsichtlich der Produktnachverfolgung (Barcodes, RFID-Tags etc.) effizient mit Händlern, Distributoren und Handelspartnern zu teilen. Zudem werden länderspezifische gesetzliche Auflagen berücksichtigt, was insbesondere für Exporteure hilfreich ist.

Laborinformationsmanagementsysteme (LIMS): Sie ermöglichen das Tracken aller erfassten Daten, garantieren deren Rückverfolgbarkeit und sind in der Lage, Labor-Prozesse, Arbeitsabläufe und Qualitätskontrollen zu automatisieren. Zudem unterstützen Laborinformationsmanagementsysteme Produzenten, die Qualität ihrer Produkte auf gesetzliche Vorgaben und wechselnde Kundenanforderungen abzustimmen.

Ein Bespiel bietet das Schweizer Unternehmen SpecPage. Es entwickelt speziell für die rezeptbasierte Fertigungsindustrie Software-Lösungen, mit denen sich einfacher und schneller neue Produkte entwickeln lassen. Mit dem Produktdatenmanagement-System „SpecPDM“ beispielsweise wird Unternehmen eine Applikationsplattform zur Verfügung gestellt, die in einer einzigen Datenbank sämtliche Formeln, Zutatenlistungen und Spezifikationen bündelt. So stehen jederzeit aktuelle Informationen über alle Produkte zur Verfügung. Das Labormanagement-System „SpecLIMS“ automatisiert zusätzlich die täglichen Laborprozesse, Qualitätskontrollen, Verwaltung, Budgetkontrollen und gesetzlichen Vorschriften im Labor [16].

Was Lebensmittelhersteller jetzt tun sollten

Die digitale Transformation ist ein nicht aufzuhaltender Prozess, der fundamentale Veränderungen bedeutet. Die Industrie 4.0 läutet eine Ära ein, in der intelligente Maschinen wichtige Arbeitsschritte übernehmen können. Unternehmen in der Lebensmittel- und Getränkeindustrie stehen in diesem Zusammenhang vor der Herausforderung, den richtigen Mix aus Technologie und menschlicher Arbeitskraft zu finden, um eine effektive Produktion zu ermöglichen. Folgende Aufgaben sollten Manager jetzt angehen:
• Bestimmen, ob ein Wechsel des Geschäftsmodells notwendig ist oder ob zusätzliche Kapazitäten und verwandte Services neue Umsatzpotenziale eröffnen können
• Areale mit Verbesserungspotenzial evaluieren
• Die technologische Infrastruktur verstehen, die nötig ist, um internen Standards und externen Regularien gerecht zu werden
• Partnerschaften entwickeln, die in einer digitalen, stark vernetzen Welt von enormer Bedeutung sind
• Aktiv teilhaben, wenn es darum geht, positive Veränderungen in der Industrie voranzutreiben, welche Konsumenten, Produzenten, Herstellern und allen anderen Einheiten entlang der Lieferkette zugutekommen können
• Mitarbeiter weiterbilden und eine Unternehmenskultur etablieren, die gut mit Veränderungen umgehen und sich an die digitale Transformation anpassen kann

Unternehmen müssen ihre Kultur nicht völlig auf den Kopf stellen, um in einem neuen Umfeld zu bestehen. Oft reicht es, bestehende Prozesse anzupassen und unvoreingenommen an neue Herausforderungen heranzugehen. Unternehmen, die den Wandel mit offenen Armen begrüßen und auch von ihren Mitarbeitern Flexibilität einfordern, können mit einer motivierten Belegschaft in eine erfolgreiche Zukunft blicken.

2019-09-30T12:56:22+02:00Blog|
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