Lebensmittelindustrie 4.0 – Revolution oder Evolution?

Mit über einer halben Million Beschäftigten in rund 6.000 Betrieben sowie einem Jahresumsatz von annähernd 180 Milliarden Euro ist die Lebensmittelindustrie die drittgrößte Industrie in Deutschland. Auch in Österreich und der Schweiz nimmt die Lebensmittelindustrie einen ähnlichen Anteil an der Wirtschaftsleistung ein. Damit dies auch weiterhin so bleibt, sind die Unternehmen in diesem Sektor gezwungen, die nächste Stufe der industriellen Revolution zu durchlaufen und so mit Hilfe des Smart Factory Konzepts zur Lebensmittelindustrie 4.0 heranzuwachsen.

Die digitale Revolution erfasst alle Bereiche der Lebensmittelindustrie

Auch wenn Hans-Jürgen Thaus, der ehemalige Vorstand der Krones AG einmal sagte, dass es immer Abfüll- und Verpackungsanlagen geben würde, solange Materie nicht durch das Internet transportiert werden könne, hat der digitale Wandel auch auf die Lebensmittelindustrie einen enormen Einfluss. Das Gesicht des Sektors wandelt sich langsam aber stetig durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie, die unter Anbindung von Internettechnologien alle Unternehmensebenen vernetzt. Technologien wie das Cloud Computing, Cognitive Computing, die virtuelle Realität und das Internet der Dinge schließen Stück für Stück die Lücke zwischen digitalen und physischen Bereichen und Prozessen. Auch für die Lebensmittelindustrie bedeutet dies, dass sich die Art und Weise Produkte zu verkaufen, zu verpacken und herzustellen ebenso ändern wird, wie die Rohstoffproduktion im Agrarsektor. Damit ist klar, dass die gesamte Wertschöpfungskette vom Schweinehof in den Alpen bis hin zum fertig verpackten Produkt durch den Einsatz von IKT in ein virtuelles System eingepasst und optimiert werden wird.

Fernziel Smart Factory

Der Einsatz von intelligenten, vernetzten Systemen erlaubt dabei nicht nur eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Abteilungen und Organisationen, sondern optimiert zugleich die Produktionsprozesse hinsichtlich Ressourcenmanagement und Flexibilität. Über viele Schnittstellen hinweg entsteht damit ein in alle Richtungen intelligent miteinander kommunizierendes System, das die Kommunikation zwischen Mensch, Maschine und Produkt von der IT-Ebene bis zur Produktionsebene vereinfacht. In der Smart Factory liefern Produktionsanlagen selbstständig Informationen über aktuelle System- und Prozesszustände. Diese Daten wiederum werden von den Anlagen automatisiert genutzt, um untereinander zu kommunizieren und im Bedarfsfall selbstständig optimierend respektive korrigierend in den jeweiligen Prozess einzugreifen. In einer Smart Factory in der Lebensmittelindustrie wissen Produktionsanlagen sowohl, was ihre Aufgabe ist als auch, ob sie aktuell Kapazitäten frei haben.

Ohne, dass ein Mensch aktiv eingreifen müsste, erkennt das System selbstständig die freien Kapazitäten und nutzt diese aus, sofern die Nachfrageseite einen Bedarf anmeldet. Auf der Nachfrageseite der Smart Factory agiert wiederum ein intelligentes Datenmanagementsystem, das per Big Data auf historische Nachfragedaten zurückgreift und Trends bereits in der Entstehung erkennt, sodass die Produktion in Echtzeit angepasst werden kann. Das Potenzial ist an dieser Stelle durch IoT-Anwendungen enorm, denn so kann die Nachfrage nach bestimmten Produkten sowohl über angebundene Wettersimulationssysteme als auch über intelligente Haushaltsgeräte wie Kühlschränke vorausgeplant werden. Der hohe Autarkiegrad sowie die Flexibilisierung der Produktionsprozesse führen damit zu einer optimalen Auslastung der Kapazitäten, womit Stillstand und Ausfallzeiten minimiert werden. Hinzu kommt eine Reduktion des Ressourcen- und Energieaufwands, was sich wiederum positiv auf die Unternehmensbilanz auswirkt.

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Einführung in die Food Industry 4.0

Warum die Industrie 4.0 gerade KMU im DACH-Raum zugutekommt

Was eine solche Entlastung insbesondere für kleinere Betriebe in der Lebensmittelindustrie bedeutet, lässt sich leicht anhand einer Traditionsbrauerei erklären, die rein hypothetisch auf das „RoboFill 4.0“-System setzt. Dabei handelt es sich um ein flexibles Automatisierungskonzept, das derzeit von einem großen Konsortium entwickelt wird, dem unter anderem die Siemens AG, die Bayerische Staatsbrauerei Weihenstephan, die Krones AG sowie die Fraunhofer IWU – Projektgruppe RMV angehören. Ziel des Projektes ist es, eine hochflexible Produktionslinie zu etablieren, die intelligent durch die Produktnachfrage gesteuert wird und starre Abfülllinien ablösen soll. Kerneigenschaft des RoboFill 4.0 Systems ist die Fähigkeit von Prozessen und Maschinen, sich selbst zu optimieren und sich damit an die Kundenbedürfnisse anzupassen.

Vor dem Hintergrund immer schneller wechselnder Trends, wie sie für den Lebensmittelsektor üblich sind, verschaffen smarte Systeme Chancengleichheit zwischen KMU und den internationalen Big Playern der Lebensmittelindustrie. Warum das am gewählten Beispiel der Brauerei so ist, verdeutlicht ein Zitat des am Projekt RoboFill 4.0 beteiligten Branchenleiters „Nahrungs- und Genussmittel“ der Siemens AG, Gunter Walden. Walden sieht den großen Vorteil der intelligenten Automatisierung darin, dass „sich der Braumeister wieder mit dem beschäftigen kann, wofür er seinen Beruf einmal erlernt hat, nämlich dem Kreieren neuer und dem Verbessern bestehender Rezepte.“ Damit spricht Walden die große Stärke der vom Mittelstand geprägten Lebensmittelindustrie im DACH-Raum an, nämlich die Innovationskraft, die künftig enorm vom Smart Factory-Konzept profitiert.

Digitale Transparenz schafft Win-win-Situationen für alle Beteiligten

Wie eine gemeinschaftliche Untersuchung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) und der Bundesvereinigung der deutschen Ernährungsindustrie (BVE) aus dem Jahr 2013 belegt, steigt in der Bevölkerung der Anteil der sogenannten „Quality Eaters“ stark an. Dabei handelt es sich um Nachfrager, die besonderen Wert auf Lebensmittelsicherheit, Nachhaltig und Gesundheit legen. Laut einer ähnlichen Studie im Auftrag des Schweizer Nahrungsmittelkonzerns Nestlé beträgt der Anteil der „Quality Eaters“ bereits rund 26 Prozent der Bevölkerung. Um die Bedürfnisse dieser Zielgruppe, die statistisch 16 Prozent mehr als der Durchschnitt für Nahrungsmittel zahlt, zu erfüllen, sind Kernbestandteile der Industrie 4.0 bestens geeignet. Während aktuell noch nicht alle Qualitätsmerkmale eines Nahrungsmittels am Point of Sale nachvollzogen werden können, ermöglicht die Vernetzung der gesamten Wertschöpfungskette eine lückenlose Bereitstellung von Daten.

Diese Daten können in entsprechender Weise aufbereitet als digitales Geschäftsmodell umgemünzt und dem Kunden als Mehrwert präsentiert werden, der das Bedürfnis nach Transparenz stillt. Ein digitaler Produktpass, der beispielsweise über einen RFID-Chip am Produkt angebracht wird, kann gleich am Point of Sale ausgelesen werden. Dabei gibt der Produktpass Aufschluss über Nährwerte, Inhaltsstoffe, potenzielle Allergene, Produktionsverfahren sowie die Herkunft der Rohstoffe. Da sich gerade Produkte in der Lebensmittelindustrie meist nicht stark voneinander abgrenzen, könnte ein digitaler Produktpass als neues Differenzierungsmerkmal Fuß fassen und den Customer Felt Value erhöhen. Aber auch für Unternehmen der Lebensmittelindustrie hat die lückenlose Datenerfassung direkte Vorteile. Denn über intelligente Apps lässt sich das Kundenverhalten wiederum als Input für die Nachfragesteuerung der Smart Factory sowie für die Produktentwicklung nutzen.

Quo vadis Lebensmittelindustrie – Evolution oder Revolution?

Die Industrie 4.0 ist ein äußerst komplexes Feld, sodass sich diese auf unterschiedlichste Branchen auch unterschiedlich auswirkt. Gerade in Bezug auf die Lebensmittelindustrie lässt sich jedoch der Mehrwert von Smart Factory und Co plastisch im globalen Maßstab darstellen. Während die Innovationen und Effizienzsteigerungen natürlich sowohl dem einzelnen Kunden als auch den Unternehmen zugutekommen, so leistet die gebündelte Effizienz jedoch auch einen wertvollen Beitrag, den Hunger auf der Welt zu beseitigen. Ob die Vision der Lebensmittelindustrie 4.0 dabei nun in Form einer Evolution oder einer Revolution daherkommt, hängt von der Bereitschaft der Unternehmen ab, die kommenden Veränderungen zu adaptieren. Unternehmen, die Veränderungen akzeptieren und digitale Konzepte proaktiv angehen, werden die sinnbildlichen Wirren einer harten Revolution jedenfalls umgehen und daraus eine produktive Evolution machen.

2019-10-23T09:07:05+02:00Blog, Lebensmittelindustrie|
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